Demut

Die Höhe des Geistes kann nur erklommen werden, wenn man durch das Tor der Demut schreitet
— Rudolf Steiner

16.10.2024

„Wir hatten Besuch in der Nacht“, begrüsst mich Martin am Morgen. Ein Fuchs hatte zu seinem Leidwesen seine Lenkergriffe angeknabbert, bis er ihn verscheucht hat. Ich habe vom nächtlichen Gast nichts mitbekommen.

Ich entscheide mich, zusammen mit Martin noch zur Grenze zu Bosnien zu fahren, von wo er durch Bosnien in Richtung Norden zurückfahren kann. Ich hingegen werde kurz vor der Grenze wieder in Richtung Süden zum Durmitor-Nationalpark abbiegen. Die Fahrt zur Grenze ist spektakulär.

Der Piva-Fluss hat sich tief in die Berge gegraben.

Die Strasse folgt ihm, gesäumt von mehreren Tunneln und einer atemberaubenden Brücke über das V-förmige Tal mit dem Fluss tief unten. Bäume wagen sich sogar auf die exponiertesten Felsvorsprünge vor. Man fühlt sich klein in dieser imposanten Schluchtlandschaft, und ein Gefühl der Demut breitet sich aus.

Die Grenze zwischen Montenegro und Bosnien wird hier vom Fluss Tapa gebildet, der kurz nach dem Grenzübergang mit der Piva zusammenfliesst. Ich bin davon ausgegangen, dass sich die beiden Grenzposten direkt vor und nach der Brücke befinden. Vor Ort bemerke ich jedoch, dass auch ich den montenegrinischen Ausreiseposten passieren muss – was eigentlich keinen Sinn ergibt, da ich ja im Land bleibe. Ich werde nervös, denn ich habe meine Drohne dabei, die bei einer Entdeckung konfisziert werden könnte. Ich frage mich, ob ich doch besser einen anderen Weg zum Sedlo-Pass gewählt hätte. Schliesslich überlege ich sogar, den gleichen Weg zurückzufahren, auch wenn der Umweg enorm wäre.

Martin versucht, mich zu beruhigen. Zunächst gehen wir im Restaurant vor dem Grenzposten ein leckeres Gulasch essen. Währenddessen packe ich, auf Martins Rat hin, meine Taschen so um, dass die Drohne in der Jackentasche steckt und die Jacke ganz unten liegt, bedeckt von meiner gesamten schmutzigen Wäsche. Und „schmutzig“ bedeutet bei einer solchen Fahrradtour wirklich schmutzig: Man schwitzt viel, kann selten waschen und hat so wenige Kleider dabei, dass man sie oft mehrmals trägt. Es ist schwer vorstellbar, dass jemand sich wirklich durch all diese Wäsche gräbt – aber man weiss ja nie, wie gründlich eine Grenzkontrolle sein kann.

Ich bin weiterhin nervös und versuche, mir nichts anmerken zu lassen. Bloss nicht auffallen. Schliesslich fahren wir los. Jetzt gibt es kein Zurück mehr. Demütig reichen wir dem Grenzbeamten unsere Ausweise. Er nickt und wirft einen prüfenden Blick aus seinem Kabäuschen auf unsere Fahrräder. Oh nein! Doch offenbar interessiert er sich nur für die Fahrräder selbst und nicht für den Inhalt der Taschen. Er nickt anerkennend, und wir dürfen die Schranke passieren. Phu… noch einmal gut gegangen.

Der Abschied fällt kurz und schmerzlos aus. Eine Umarmung, gegenseitige gute Wünsche, und das war's. Ich hoffe, dass wir uns wiedersehen. Martin überquert die Brücke, und ich folge der Strasse nach rechts, wo glücklicherweise kein Einreisezoll vorhanden ist. Das soll mal eine*r verstehen!

Meine bisherige Bilanz in Montenegro:

  • Offizielle Einreisen: 0

  • Offizielle Ausreisen: 1

  • Ich befinde mich (weiterhin) im Land.

Nun folgen für mich 1.000 anstrengende Höhenmeter. Langsam wird mir klar, warum dieses Land Montenegro heisst – auch wenn momentan eher Rot, Gelb und Orange statt Schwarz dominieren. Doch Berge hat es hier definitiv.

Ich erinnere mich daran, dass im Durmitor-Nationalpark Bären leben. Kurz darauf bestätigt eine Infotafel dies und zeigt zudem, dass hier auch Wölfe vorkommen. Es wird ja immer besser. Mental bereite ich mich darauf vor, dass hinter jeder Kurve eines dieser Tiere lauern könnte. Innerlich bitte ich mein Schicksal demütig, mir eine solch nahe Begegnung zu ersparen.

Schliesslich erreiche ich eine Hochebene und baue mein Zelt auf. Beim Aufsteigen der Drohne traue ich meinen Augen kaum: Die Landschaft in der Nähe meines Zeltplatzes sieht wie eine Mondlandschaft aus, mit grossen, nebeneinanderliegenden Löchern im Boden.

Nun habe ich es also auf den Mond geschafft. Ein grosser Schritt für mich, wenn auch keiner für die Menschheit.

Wieder fühle ich mich klein in dieser überwältigenden Landschaft und spüre Demut. Erquickt lege ich mich ins Zelt – natürlich nicht ohne darauf zu achten, alle Lebensmittel gut verschlossen IM Zelt zu verstauen. Nicht, dass ich noch Wölfe oder Bären anlocke...

Zurück
Zurück

Verloren

Weiter
Weiter

Feuer