Verloren

Wer kämpft, kann verlieren. Wer nicht kämpft, hat schon verloren.
— Bertolt Brecht

17.10.2024

Am nächsten Morgen fahre ich früh los. Nach wenigen Kilometern, mit allerdings auch einigen Höhenmetern, merke ich, dass ich meine Actionkamera wohl beim Zeltplatz habe liegen lassen. Wäre jedenfalls besser, als wenn sie mir beim Fahren aus der Tasche gefallen wäre, was ich nicht ausschliessen kann. Ich fahre aufgewühlt zurück. Und da ist sie, liegt einfach im Gras. Gott sei Dank, habe ich sie also doch nicht verloren! Irgendwie beschleicht mich das Gefühl, dass ich noch etwas anderes hier habe liegen lassen. Ich wüsste aber nicht, was. Auch nachdem ich wieder abfahre, kommt mir nichts in den Sinn. Muss wohl Einbildung sein, eine gewisse Paranoia nach diesem Schreckmoment.

Nun sehe ich die Mondlandschaft vom Weg aus direkt vor meinen Augen. Eindrücklich.

Bald schon führt mich der Weg aber in einen Wald mit tollen Herbstfarben.

Ich realisiere, dass ich zu wenig Wasser dabei habe und bis am Abend wohl keine Kaufmöglichkeit mehr haben werde. Ich erreiche ein paar Häuser und frage die erste Person, die ich sehe. Der Mann in Militärkleidung spricht kein Wort Englisch, Handzeichen müssen ausreichen. Ich darf meine Flaschen auffüllen. Als ich ihn frage, wieviel er dafür möchte, zeigt er mir 80 und sagt „Euro“. 80 Euro? Ich bin etwas perplex. Soll das ein Witz sein? Ich wirke dabei wohl etwas verloren, bis er in Gelächter ausbricht. Er will nichts dafür, gibt er mir mit seinen Händen zu verstehen.

Kurz darauf treffe ich bei einem Aussichtspunkt eine Schweizerin. Sie ist mit ihrem Mann, ihren Geschwistern samt Partnerinnen und Partnern und ihren Eltern hier. Unweit entfernt trinken sie einen Kaffee, den ein findiger Mann vom Ort hier beim Aussichtspunkt verkauft. Sie und ihr Mann seien ebenfalls mit dem Fahrrad aus der Schweiz in den Balkan gefahren. Ich gebe ihr ein Kärtchen mit meiner Homepage. Es ist nur eine kurze Begegnung. Zu diesem Zeitpunkt weiss ich noch nicht, dass ich die Familie überraschend später wiedersehen werde.

Nun geht es in ein Tal hinunter, bevor es auf der anderen Seite unzählige Höhenmeter wieder bergauf geht.

Ganz unten ein See, der die Berge und Herbstbäume spiegelt.

Da packe ich doch gleich kurz die Drohne aus. Dann wird's streng. Höhenmeter um Höhenmeter kämpfe ich mich hoch. Kurz vor der Passhöhe zeigt sich ein fantastisches Panorama. Bergkette um Bergkette reihen sich hintereinander, je nach Entfernung in entsprechend anderer Schattierung. Die Herbstbäume vollenden das atemberaubende Gesamtbild mit ihren tollen Farben. Diesen Pass werde ich so schnell nicht vergessen. Als ich die Passstrasse wieder hinunterfahre, geht auch die Sonne langsam unter. Es wird frisch. Ich schaffe es aber noch bei etwas Restlicht nach Žabljak.

Auf der Suche nach einem Restaurant zum Aufwärmen, Nachtessen und Unterkunft buchen, höre ich auf der Strassenseite ein Miauen. Ein wenige Tage altes Kätzchen schleicht halb blind und hilfesuchend der Strasse entlang. Es scheint von der ganzen Welt vergessen gegangen zu sein. Völlig verloren. Herzzerreissend. Aber ich kann nichts für das kleine Tierchen tun. Im Restaurant realisiere ich, dass es gar nicht der Sedlo-Pass war, den ich gefahren bin, sondern die nördliche Strasse davon. Das ist mir nun auch wirklich noch nie passiert.

Auch finde ich im Restaurant eine passende Unterkunft für zwei Nächte, plane für den nächsten Tag einen Ruhetag ein. Doch wirklich ruhig wird dieser Tag nicht.

Als ich meine Drohnenfotos ins Internet laden möchte, fällt mir auf, dass eine Micro-SD-Speicherkarte fehlt. Mit ihr sind fast alle Fotos der letzten paar Tage verloren: Hochebene mit nebligem Sonnenaufgang in Bosnien, feuriger Sonnenuntergang kurz vor der Grenze zu Montenegro, Piva-See, Mondlandschaft... Die Karte müsste eigentlich irgendwo sein, wo ich die Drohne aus der Tasche genommen habe, denn die sie war ebenfalls in der Tasche und muss rausgefallen sein. Dabei kämen in chronologisch umgekehrter Reihenfolge die aktuelle Unterkunft, der gestrige See im Tal und der gestrige Zeltplatz in Frage.

Hastig durchsuche ich mein Zimmer. Nichts. Mit dem Fahrrad den gestrigen Weg zurückzufahren, steht, angesichts der Kilometer und Höhenmeter und der geringen Erfolgsaussichten auf Wiederfinden, nicht zur Debatte. Ich frage meinen Gastgeber, ob man hier ein Auto mieten könne. Nein, könne man nicht, meint er. So schnell gebe ich nicht auf. Die einzige örtliche Mietstation auf Google Maps entpuppt sich allerdings ebenfalls als nicht existierend. Ich frage bei einer Autowerkstatt nach, vielleicht haben sie ja da ein Auto, das sie mir ausleihen können. Leider nicht. Doch ein Hotel in der Nähe vermiete manchmal ein Auto. Nichts wie hin.

Tatsächlich kann ich ein Auto für einen Tag haben, allerdings zu einem, insbesondere für Montenegro, stolzen Preis von 80 Euro. Das würde sich wirklich nur dann lohnen, wenn ich diese ca. 3 auf 3 cm grosse Plastikbox mit SD-Karte im riesigen Durmitornationalpark finden würde. Das ist nicht eine Nadel im Heuhaufen, das ist eine im Heugebirge. Trotzdem: Irgendwie habe ich einen Funken Hoffnung. Ich setze alles auf eine Karte. Auf eine Speicherkarte gewissermassen. Das Auto ist ziemlich verbeult. Zumindest merkt so niemand etwas, falls ich auch noch eine Beule verursachen sollte. Ich muss weder einen Ausweis zeigen noch meinen Namen nennen, geschweige denn irgendetwas unterschreiben.

Mir wird einfach der Schlüssel überreicht. So werden hier Geschäfte gemacht.

Nichts wie los! Auf den Nachmittag ist Regen angesagt, was die Erfolgsaussichten für das Finden einer noch funktionierenden Speicherkarte wirklich auf 0 setzen dürfte. Komisch, den ganzen gestrigen Weg mit einem Auto zurückzufahren.

Möglicher Fundort beim See: Auch nach langem Suchen nichts.

Nun kommt nur noch der Zeltplatz in Frage. Da hatte ich doch bereits das Gefühl, beim Verlassen etwas liegen gelassen zu haben.

Und tatsächlich! Die kleine Plastikbox liegt einfach am Strassenrand, im hohen Gras.

Als hätte sie auf mich gewartet. Ich brauche einige Zeit, bis ich es realisieren kann. Die Fotos sind also nicht verloren! Kurz darauf beginnt es zu tropfen. Unglaublich. Ich kann mein Glück kaum fassen. Eine Geschichte, wie sie nur das Leben schreiben kann.

Als Finderlohn fahre ich mit dem Auto anschliessend noch über den „richtigen“ Sedlo-Pass. Ich sehe eine grosse Schafsherde und wilde Pferde. Was für eine Odyssee!

Zurück
Zurück

Tiefkühlpizza

Weiter
Weiter

Demut