Different

Andersdenkende sind oft ganz anders, als wir denken.
— Ernst Ferstl

22.11.2024

Ein Angestellter des Hotels zeigt sich sehr unterwürfig und will unbedingt mein ganzes Gepäck mitsamt Fahrradkarton auf einem Trolley selbst nach oben bringen. Ich bestehe darauf, auch etwas zu tragen. Im Zimmer ist zwar eine Kochnische vorhanden, aber keine Pfannen. Darauf hingewiesen, bringt der Angestellte sofort ein ganzes Set neuer Pfannen, noch im Karton verpackt. Trinkgeld will er zu meiner Überraschung keines annehmen.

Ich habe Hunger, doch nach der langen Reise nun doch keine Lust mehr, noch zu kochen. Also verlasse ich mein Hotel, suche ein Restaurant und werde mit dem "Shrimps Nation" fündig. Shrimps, Reis und Sauce, individuell kombinierbar.

Allerdings hatte ich es mir etwas anders vorgestellt: Der Reis wird mir direkt aufs Tischtuch, eine braune Papierunterlage, gelegt. Ich bekomme Plastik-Handschuhe und -Schürze - der Kampf mit den Shrimps kann beginnen.

Es gelingt mir kaum, sie mit den übergrossen Handschuhen aus ihrer Schale zu klauben. Erinnerungen werden wach an das Spiel bei früheren Kindergeburtstagen, wo mit Topflappen Schokolade geschnitten werden musste.

Ein Servicemitarbeiter beobachtet die Szenerie, eilt mir zu Hilfe, legt alle Shrimps frei und vermischt in einem Plastiksack mit ein paar kraftvollen Schwüngen gleich alles.

Das Essen ist lecker. Nur doof, hat eine Fliege das Gefühl, sie müsse mir gerade jetzt im wahrsten Sinne des Wortes immer wieder auf der Nase herumtanzen. Mit meinen Handschuhen voller Sauce bin ich ihrem Tanz wehrlos ausgeliefert.

Am Schluss wird der Anblick des Tisches einem Schlachtfeld mehr als gerecht.

Oder einem wilden Kindergeburtstag. Ich wollte ja nur essen gehen, aber selbst das wird hier zu einem Erlebnis. Vieles ist anders hier.

Den nächsten Tag gehe ich ruhig an. Ich baue mein Fahrrad im Hotelzimmer zusammen und packe alles abfahrtfertig um.

Erst am späteren Nachmittag gehe ich raus auf die Strasse. In einem Café spielen sie Spiele. Sie, das sind alles Männer, nur Männer. Eine Frau, natürlich gänzlich verhüllt, sehe ich auf dem Weg zu einem nahgelegenen Supermarkt dann doch noch. Sie arbeitet in einem Schokoladenladen für eine belgische Marke. Schweizer Schokolade kenne sie nicht. Sie gibt mir ein Muster ihrer Schokolade mit.

Der Supermarkt ist riesig. RIESIG! Für jedes Produkt hat es zig Ausführungen. Als wären die Auswahl und Orientierung für mich, angesichts der vielen mir grundsätzlich unbekannten Produkten, nicht sonst schon herausfordernd genug.

Ich verbringe gut über eine Stunde in diesem Produktelabyrinth und kaufe einiges an Proviant für die folgenden geplanten Tage in der Wüste.

Es hat allerdings auch mir bekannte Produkte, wie beispielsweise Schweizer Schokolade. Auf dem Rückweg bringe ich der Schokoladen-Verkäuferin eine Lindt-Tafel mit. Sie ist sehr überrascht, lehnt zuerst ab, probiert dann aber doch etwas, vielleicht weil sie meine leichte Enttäuschung bemerkt. Habe ich mit meiner unbedachten Schokoladenaktion eine Grenze im sozialen Umgang zwischen Mann und Frau überschritten? Ich weiss es nicht, bin etwas verunsichert. Sehr vieles ist einfach anders hier.

Bezüglich des sozialen Umgangs fühle ich mich ein wenig wie ein Kind, das die ersten Gehversuche wagt.

Ich versuche mich im Internet über die wichtigsten Gepflogenheiten in Saudi-Arabien zu informieren. Dabei erfahre ich, dass man als Mann Frauen nicht von sich aus ansprechen sollte. Auch, dass nur mit der rechten Hand gegessen werden sollte, da die andere beim Toilettengang zum Einsatz kommt. Und es gilt offenbar als unhöflich, jemandem die Schuhsohlen zu zeigen.

Mir fällt auf, dass ich für die Hotelübernachtungen mehr bezahlt habe als auf Bookings angezeigt. Beim Auschecken frage ich nach. Die verhüllte Frau an der Rezeption versteht nicht, wie ich auf die Idee komme, zu viel bezahlt zu haben. Erst als ich ihr zum zweiten Mal meine Buchungsbestätigung von Bookings zeige, versteht sie die Sachlage: "This is a different hotel", sagt sie mir mit ihren paar Brocken Englisch, die sie kann. Echt? Der Taxifahrer hatte mich hierhergebracht und es sah in etwa so aus wie auf den Bildern.

Ich möchte wissen, wie denn dieses Hotel hier heisst. "Different", ihre Antwort. Ja, ist mir klar, dass der Name anders ist, wenn es ein anderes Hotel ist, aber wie heisst es denn?

Ihre Antwort bleibt mehrmals die gleiche: "Different."

Sie scheint mich nicht zu verstehen. Ich schaue mich um, vielleicht finde ich den Namen ja irgendwo. Und tatsächlich, auf einer Tafel steht er.

Und jetzt kommts! Wenn ich es nicht selbst erlebt hätte, würde ich diese Geschichte wohl nicht glauben: Dieses Hotel heisst doch tatsächlich "Different"! Hotel Different. Was für eine Ironie des Schicksals.

Eine solche Geschichte kann nur das Leben schreiben. Ich lache laut. Geld zurückverlangen kann ich somit natürlich nicht. Auch mein Gegenüber kann sich ein Lachen unter ihrem Niqab merkbar nicht verkneifen. Wenn ich es nicht einmal schaffe, im gebuchten Hotel abzusteigen, wie soll ich da bloss die Wüste überleben?

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