Flexibilität

Manchmal zeigt sich der Weg erst, wenn man anfängt ihn zu gehen.
— Paulo Coelho

24.11.2024

Nun geht es also los in die Wüste.

Ich starte eher spät, denn es kostet mich einige Überwindung zu starten. In einem Kreisel weht eine riesige saudische Flagge. Ich weiss nicht, ob es an der schieren Grösse, dem darauf abgebildeten Schwert oder sonst etwas liegt, aber sie wirkt furchteinflössend auf mich.

Geplant sind rund 85 Kilometer, hin zu einem Canyon, in dessen Nähe auch das Megaprojekt der Superlative "The Line" entsteht: Eine neue Stadt für bis zu 9 Millionen Menschen, gebaut als 170 Kilometer langer, nach aussen verspiegelter Balken, der vom Meer bis mitten in die Wüste reicht. Wie mir gesagt wurde, wird nonstop Tag und Nacht daran gearbeitet.

Ich fahre nun aber zunächst eher in Schlangenlinien als auf einer geraden "Line", was den Strassen und dem Verkehr geschuldet ist.

Die dreispurige Strasse bietet nur wenig Platz an der Seite für mich. Als eine Brücke kommt, gibt es gar kein Platz mehr und die Strasse gleicht einer Autobahn. Das ist mir zu gefährlich. Ich drehe nach rechts ab. Doch auch da gelange ich schon bald an die nächste grosse Strasse. Wie soll ich so bloss aus Tabuk rauskommen? Und die zusätzliche Zeit war auch nicht eingerechnet.

Ohne wirklich zu wissen, wie mir geschieht, finde ich mich kurze Zeit später vor einer Schale Reis mit Poulet und einem Gegenüber in einem Restaurant wieder.

Aber zunächst alles von vorne: Ein freundliches Gesicht in einem Pickup fragt mich, ob alles okay sei. Ich versuche ihm, meine Situation zu erklären. Er scheint jedoch zu verstehen, dass ich lediglich den Weg nicht finde, und sagt, ich solle ihm nachfahren. Er fährt zur gleichen grossen Brücke zurück, von der ich gerade gekommen bin. Offensichtlich kann er sich nicht vorstellen, wie es ist, mit einem Fahrrad auf dieser Strasse unterwegs zu sein.

Ich fahre ihm hinterher und gebe ihm mit Handzeichen zu verstehen, am Strassenrand anzuhalten. Daraufhin frage ich ihn, ob er mich ein Stück mitnehmen könne. Kein Problem.

Als er mich fragt, ob ich schon zu Mittag gegessen habe, und ich verneine, fährt er kurzerhand zu einem Restaurant und lädt mich ein.

Das Fahrrad könne ich mitsamt Gepäck auf dem Pickup lassen. Bender, so heisst mein Lunchpartner, merkt, dass mir das etwas Sorgen bereitet, und bittet die Dame an der Kasse beiläufig, ein Auge darauf zu werfen.

Im oberen Stockwerk folgt dann besagte Szene mit Reis und Poulet. Fingeress-Training, diesmal ohne Handschuhe. Als wir wieder ins Erdgeschoss gelangen, ist die Dame an der Kasse verschwunden, doch zum Glück ist mein Hab und Gut immer noch sicher auf dem Pickup. Bender fährt mich noch ein Stück weiter bis zu einem Laden – wie sich herausstellt, sein eigener Gemischtwarenladen, in dem von Essen über Katzenbäume bis hin zu Bohrern so ziemlich alles zu finden ist.

Er mischt mir ein Parfüm als Geschenk und gibt mir auch eine Subha, eine Gebetskette, mit. Viele Menschen hier haben eine solche oft in der Hand. Ich hatte gehofft, dass er mich noch ein Stück weiter aus der Stadt bringen könnte, da die Strasse hier noch nicht besser geworden ist. Offenbar bemerkt er meinen Unmut, sagt mir jedoch, dass er mich leider nicht weiterfahren könne, da er seine sechs Kinder von der Schule abholen müsse. Ich bedanke mich herzlich und bin nun wieder auf mich allein gestellt.

Ohne wirklich zu wissen, wie mir geschieht, sitze ich kurze Zeit später nicht mehr auf meinem Fahrrad-, sondern auf einem Pferdesattel.

Doch auch hier alles von vorne: Die Zeit ist schon fortgeschritten, und mir ist klar, dass ich mein Ziel heute nicht mehr erreichen werde. Ich suche im Internet nach einem preisgünstigen Hotel in der Nähe, an der Stadtgrenze. Ich finde eines, doch dafür müsste ich auf die andere Strassenseite gelangen – ein Ding der Unmöglichkeit.

In einem mandelförmigen Vierfach-Kreisel müsste ich bei viel Verkehr zweimal die Kreisel wechseln. Ratlos setze ich mich an den Strassenrand.

Schon bald werde ich erneut aus einem Pickup angesprochen.

Ich frage, ob er mich auf die andere Strassenseite bringen könnte, und er lässt mich einsteigen. Kurz darauf zeigt er mir Fotos von einem deutschen Radreisenden, den er offenbar vor rund einem Jahr zu sich eingeladen hat. Gemeinsam hatten sie einen Ausflug zu ebendiesem Canyon gemacht, der mein eigentliches heutiges Ziel war.

Als ich ihm dies erzähle, meint er, heute habe er keine Zeit mich dahin zu bringen, morgen wäre es aber möglich.

Offenbar möchte er mich nicht nur auf die andere Strassenseite bringen, sondern zu sich und seinen Pferden einladen – inklusive Übernachtung und einem gemeinsamen Ausflug zum Canyon am nächsten Tag. Spontan willige ich ein. Vielleicht gar nicht so verkehrt, wenn ich mir die Wüste erst einmal aus dem Auto anschauen kann. Er holt für uns beide je einen Kaffee. Salah, wie er heisst, spricht zwar kaum Englisch, doch mit ein wenig Google Translate und Händen und Füssen verständigen wir uns meist.

Er zeigt mir seine sieben Pferde, und schon bald sitze ich auf einem.

Beim kurzen Ausritt durch den Sand sehe ich verschiedene Tierkadaver: ein Pferd, ein Schaf ... Die Tiere werden hier offenbar einfach liegen gelassen und verwesen. Es mutet etwas unheimlich an.

Eines seiner Pferde heisst „Ros“. „Das muss ein Schweizer Pferd sein“, sage ich Salah mit einem Augenzwinkern und erkläre ihm wieso. Nach dem kurzen Ausritt sitzen wir mit den Arbeitern zusammen ums Feuer und trinken Tee und Kaffee. Ich gehe davon aus, dass Salah hier auch wohnt und ich hier schlafen werde. Doch wieder einmal kommt alles anders als gedacht.

Er fährt mich zu einem Restaurant, wo er mich zum Abendessen einlädt.

Danach bringt er mich zu dem Haus, in dem er tatsächlich wohnt – zusammen mit seinem Bruder, dessen Familie und wohl auch noch weiteren Verwandten.

Wir sitzen in einem grossen, mit Teppichen ausgelegten Raum.

Leute kommen und gehen. Ich habe keine Übersicht, wer hier wohnt, wer zu Besuch kommt, wer zur Familie gehört und wer zum Freundeskreis.

In diesem Raum haben nur Männer Zutritt. Auch die Söhne sind da und lauschen aufmerksam den Gesprächen der Erwachsenen. Sie folgen aufs Wort. Salahs Bruder nippt die ganze Zeit an der Shisha.

Und hier darf ich schlafen. Am nächsten Morgen werde ich früh von Salahs Bruder geweckt.
Er wolle nur kurz Shisha rauchen – gleich neben mir.

„Schlaf ruhig weiter“, sagt er.

Und so gilt es, auch beim Schlafen Flexibilität zu wahren, und ich döse zum Blubber-Geräusch der Shisha wieder ein.

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Salah

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