Erster Schritt

Der Anfang ist die Hälfte des Ganzen.
— Aristoteles

19.12.2024

35 Kilometer bei starkem Gegenwind. Ich bin fix und fertig.

Bei einer kurzen Trinkpause nahe eines Dörfchens mitten im Nirgendwo werde ich von einem jungen Ziegen- und Schafzüchter, Abdulrahman, angesprochen und zu einem Tee und Datteln in seinem Zelt eingeladen.

Sein gutes Englisch komme vom Filmeschauen. Sein Bruder und Nachbarn stossen dazu. Ein Nachbar im jungen Teenager-Alter ist mit seinem Vater gekommen. Ich zeige ihnen ein paar Kartentricks, sie staunen. Rasch wird klar, dass der Wind kein baldiges Ende findet und ich bei Abdulrahman übernachten werde.

Faydat Ibn Suwaylim heisst dieser kleine Ort.

Offenbar wurde hier in der Nähe irgendein Rohstoffvorkommen gefunden, wie mir Abdulrahman erzählt. Seither wird nichts mehr in diesen Ort investiert, es gibt fast nichts und viele sind schon weggezogen. Vielleicht werden auch Abdulrahman und seine Familie sowie alle anderen hier in naher Zukunft einmal wegziehen müssen. Dies jedenfalls wird gemunkelt. Schon wieder eine mögliche Zwangsumsiedlung, von der ich Wind bekomme. Wir fahren zu seinem Elternhaus und wiederum darf ich im mit Teppichen ausgelegten Gästeraum schlafen.

Doch vorher gehen wir noch in die kleine örtliche Moschee. Abdulrahman ist hier Muezzin und ich darf ihn beim Ausrufen des Abendgebets beobachten.

Zwischen zwei bis zehn Personen kommen jeweils zu den fünf Gebeten jeden Tag, zum heutigen Abendgebet sind es drei. Er erzählt mir, dass er für seinen Nebenjob zukünftig keinen fixen Lohn mehr erhalten wird und weiss noch nicht, ob er es unter diesen Bedingungen weiterhin machen will. Offenbar unterliegt also auch die örtliche Glaubensgemeinschaft einem Spardruck. Die Nächte hier sind kalt. Dick eingehüllt in einem von meinem neuen Freund ausgeliehenen Mantel geht's zurück zu seinem Zelt, das etwas ausserhalb des Dorfes fix aufgebaut ist. Wir machen ein grosses Feuer. Freunde kommen vorbei. Sie verbringen fast jeden Abend gemeinsam hier, meint Abdulrahman. Im Dorf gibt es ja auch kaum was zu machen abends.

Ich frage alle in der Runde, was sie arbeiten. Zu meiner Überraschung haben alle entweder einen Job beim Militär oder sonst beim Staat oder aber sie arbeiten gar nicht, was hier nicht so ein Problem zu sein scheint. Abdulrahman bietet mir selber gemachte Ziegenmilch-Biskuits an, die zwar gewöhnungsbedürftig, mir aber irgendwie auch überraschend gut schmecken, weswegen ich eher zu viele als zu wenige davon esse. Dabei wurde ich gewarnt, dass sie die Gasbildung fördern. Einer der Freunde probiert auch eines, mag es aber gar nicht. Es wird zum Running Gag, dass ich ihm immer wieder davon anbiete.

Erschwerend gibt es danach zum Nachtessen Reis mit einer Ziegenkäsesauce und Joghurt.

Abdulrahman möchte mir wohl die ganze Palette an Ziegenprodukten näherbringen.

Nun ja, ich schlafe heute ja alleine im Raum, halb so tragisch also. Ich staune ob der vielfältigen saudischen Küche. Abdulrahman und seine Schwester und Mutter, die ich allerdings nie sehe, verwöhnen mich auch am nächsten Tag kulinarisch, er bringt mir ein reichhaltiges Morgenessen. Ich weiss gar nicht wie ich das verdient habe.

Ich fühle mich bei Abdulrahman wohl. Auch er sagt, es fühle sich für ihn an, als würden wir uns schon einiges länger kennen.

In den letzten paar Tagen haben mich Rückenschmerzen geplagt. Als ich ihm davon erzähle, versucht er mir meinen Rücken wieder zurecht zu biegen, leider nur mit kurzfristigem Erfolg. Der Wind bläst immer noch stark in die für mich falsche Richtung, sodass ich mich dazu entschliesse, eine zweite Nacht bei Abdulrahman zu bleiben. Er zeigt mir die Lehmhäuser, sein Dorf, so wie es vor seiner Zeit einmal aussah. Der Zahn der Zeit nagt daran, sie sind am verfallen. Löcher im Boden, die als Brunnen dienten, sind auch noch zu erkennen. Der Boden ist trocken. Abdulrahman hofft auf baldigen Regen für seine Herde. Er muss heute etwas im nächsten Städtchen besorgen und fragt mich, ob ich mitkommen will. Ja klar.

Kurzerhand schleppt er mich dort zu einem Coiffeur. Er hat recht, meine Frisur kann definitiv wieder mal einen Schnitt vertragen.

Währenddessen kann er seine Besorgungen erledigen. Bevor ich mich versehe, hat Abdulrahman bereits bezahlt und besteht darauf, dass ich nichts zurückbezahle.

Ebenso beim Adapterkauf, mein bisheriger funktioniert nicht mehr.

Die Grosszügigkeit in Saudi Arabien überrascht mich immer wieder aufs Neue. Es ist eine Grosszügigkeit, die keine Gegenleistung verlangt.

Keine Gegenleistung im Hinterkopf hat. Ja, eine solche sogar ablehnt. Mein Vorschlag, ihm auch etwas zu schenken, wird vehement ausgeschlagen.

Auf der Rückfahrt durch die Landschaft, wo in rund einem Monat die berühmtberüchtigte Dakar Rally stattfinden wird, stoppen wir bei seiner Ziegen- und Schafsherde. Sein indischer Gastarbeiter ist den ganzen Tag mit ihr unterwegs und schläft in der Nacht neben ihrem Nachtgehege. Sie sind auf dem Rückweg zu ebendiesem. Bald geht die Sonne unter. Zu dritt füttern wir die nun ungeduldigen Tiere, die Jungtiere werden mir gezeigt.

Auf dem Weg zu einem neuerlichen Abend mit Freunden in seinem Zelt spreche ich ihn auf die Gastarbeiter-Situation in Saudi Arabien an. Das System sei sich am verändern, man könne Gastarbeiter nun auch schon ohne Sponsoring-System anstellen. Es geht also doch etwas in eine offenbar gute Richtung. Ob da all die geplanten Sportgrossveranstaltungen eine Rolle spielen? Internationaler Druck? Oder eine gewollte Imageveränderung hinsichtlich der genannten Ambition, bis 2030 weltweit das Land mit den meisten Touristen zu sein?

Abdulrahman erzählt mir von seinem schon länger gehegten Wunsch, den höchsten Berg zwischen seinem Dorf und Hail zu besteigen.

Meine Chance, ihm wenigstens etwas Immaterielles "zurückzugeben", indem ich ihm bei der Initiierung helfe. Ich sage ihm, es komme darauf an, den ersten konkreten Schritt zu machen. Genau darum ging es anfangs auch bei meiner Reise. Und das soll auch der Titel "abgefahren" zum Ausdruck bringen. Verbindlichkeit zu schaffen, kann zusätzlich helfen. Im Gespräch mit mir gleich einen Termin zu setzen, geht ihm dann aber zu weit. Er möchte erstmal einen Freund fragen, ob er mitkomme. Ich werde ihn in zwei Wochen nach dem Stand der Planung und Umsetzung fragen, versichere ich ihm.

Auch der zweite Abend mit Abdulrahman und seinen Freunden ist kurzweilig. Wir spielen ein Spiel, das in der Schweiz als "Dog" bekannt ist. Allerdings heisst es hier anders und viele Regeln sind etwas abweichend, was mich ziemlich verwirrt. Mit dem Verlieren kann ich aber leben, habe ich doch in diesen Tagen einen Freund gewonnen. Am nächsten Tag geht es für mich wieder mit dem Fahrrad los. In die Richtung des höchsten Berges zwischen Faydat Ibn Suwaylim und Hail.

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