Bald gesellen sich einige Gastarbeiter zu mir in der Baracke.
Sie kochen kurzerhand ein einfaches aber gutes Gericht: Brot mit einer Gemüsesauce. Ich solle auch mitessen, meinen sie. Ich bin mir etwas unsicher, da Mohammed ja auch noch mit Essen kommen wird, möchte aber auch nicht ablehnen. So esse ich mit, versuche aber, mich etwas zurückzuhalten. Sie können alle fast kein Englisch. Um dennoch ins Gespräch zu kommen, frage ich sie, ob sie denn schon einmal in Al'Ula waren. Sie müssen unbedingt mal dahin, es ist so schön und nicht allzu weit weg von hier, schwärme ich. Die Antwort ist ein betretenes Schweigen, das ich klar als Nein interpretiere. Auch das Zeigen von Fotos macht es nicht besser, das Interesse ist, zu meiner Überraschung, eher klein. So halte ich mich nach dem Essen zurück und finde mich in einer Beobachterrolle wieder.
Ich erfahre, dass es Wettbewerbe gibt, wo es nicht auf die Schnelligkeit sondern die Schönheit der Kamele ankommt.
Dicke Lippen gelten dabei unter anderem als besonders schön. Auf Bildern werden mir Kamele mit absurd dicken Lippen gezeigt. Mit einem sudanesischen Gastarbeiter komme ich mittels Google Translate dann doch noch etwas länger ins Gespräch. Ich spüre eine Verbindung zu ihm. Und auch eine Traurigkeit und Verletzlichkeit tief in ihm drin. Jamal ist der älteste Sohn seiner Familie, weshalb er es ist, der den Sudan bei Kriegsbeginn verlassen und in ein fremdes Land gehen musste um die Familie im nach wie vor kriegsgeplagten Sudan finanziell zu unterstützen. Er arbeite hier jeden Tag um die 15 Stunden. Ferien habe er keine und das Gehalt sei nur mittelmässig. Aber er könne nicht anders als hier weiterzuarbeiten, verlasse sich doch seine Familie auf ihn. Er zeichne gerne, doch habe er hier weder wirklich Zeit noch Energie für diese Leidenschaft. Absolut verständlich. Ob diese Arbeitszeiten hier erlaubt seien, wisse er nicht, Kontrollen gebe es auf jeden Fall keine. Das grenzt in meinen Augen an moderne Sklaverei. Nun bin auch ich traurig. Ich realisiere, dass es allen hier im Raum so ergeht. Ich schäme mich für meine Fragen bezüglich Al'Ula. Das Schweigen als Antwort ihrerseits erklärt sich somit.
Jamal und ich tauschen unsere Nummern aus. Ich möchte mir überlegen, wie ich zumindest ihm helfen könnte. Mohammed zeigt sich heute zu meiner Überraschung gar nicht mehr. Um 22 Uhr ist Bettruhe, um 6 Uhr Aufstehen, wird mir mit Händen und Füssen erklärt. Kurz vor dem Zubettgehen realisiere ich, dass ich, nicht wie anfangs kommuniziert im Gästeraum, sondern offenbar nun in derselben Gastarbeiter-Baracke übernachten soll, in der wir bereits zusammen sitzen, gemeinsam mit einem pakistanischen Gastarbeiter von Mohammed. Sind das die Retourkutschen fürs nicht Eintreten auf Mohammeds Bilder-Wunsch? Oder war alles einfach ein Missverständnis aufgrund der Sprache? Wenn ich das gewusst hätte, hätte ich mein Zelt aufgestellt. Es riecht alles nach Kamel und Fliegen schwirren umher. Die für mich vorgesehene Pritsche ist für mein Empfinden hart. Ausserdem ist immer mal wieder ein Krabbeln vom Dach her zu hören. Wohl Ratten, denke ich mir, und versuche den Gedanken aber sofort wieder loszuwerden. Doch nun bleibt mir kaum etwas anderes übrig als hier zu schlafen versuchen.
Als ich kurz nach 10 Uhr noch mit Sofia am telefonieren bin, merke ich, wie mein Zimmergenosse schon etwas nervös wird. Ich beende den Anruf. Er schnarche nicht, meint mein Zimmergenosse auf Nachfrage. Immerhin.
Kurz nach Lichterlöschen - Schnarchen.
Also doch. Da mir nicht nur die Pritsche hart sondern auch die Decke darauf etwas unhygienisch erscheint und bereits schon erster Juckreiz bei mir auslöst, blase ich kurzerhand noch meine Matratze auf. Angezogen vom Handylicht fliegen mir die Fliegen beim Schreiben von letzten Whatsapp-Nachrichten ins Gesicht. Ich buche es als Teil des Gesamterlebnisses ab. Es ist immerhin der beste Weg, um zumindest teilweise nachfühlen zu können, wie es den Gastarbeitern hier ergeht. Trotz allem schlafe ich dennoch bald ein - die Müdigkeit ist zum Glück grösser als alle Unannehmlichkeiten.
Kurz vor 4 Uhr werde ich von einem Telefongespräch meines Zimmergenossen geweckt. Schlaftrunken ärgere ich mich. Hat er nicht Schlafen bis 6 Uhr gesagt? Doch sobald all meine Sinne aus dem Schlafmodus sind, realisiere ich: Er hat wohl nicht Schlafen bis 6 Uhr gemeint, sondern 6 Stunden Schlaf. Und als er kurz darauf im selben Raum Teig knetet und Brot backt wird mir bewusst, dass dies seine tägliche Morgenroutine darstellt, wahrscheinlich all seine Tage hier auf diese Weise beginnen. Nun ja, um 15 Stunden an einem Tag zu arbeiten muss man ja auch früh beginnen. Und da wird mir auch klar, dass kurz vor Arbeitsbeginn eine der spärlichen Möglichkeiten da ist, um ein Telefonat mit seiner Familie zuhause zu führen. Mein Ärger weicht einer Hochachtung. Diese Arbeitstüchtigkeit. Dieses Akzeptieren der momentanen Situation. Ohne Murren, mit grosser Selbstverständlichkeit, verrichtet er flink seine Arbeit. Nach dem Morgenessen, frisches Fladenbrot, geht es raus um die Kamele zu füttern. Und dann geht es auch schon weiter zum Kamelrenntraining.
Ein Leben um zu arbeiten, nicht ein Arbeiten um zu leben.