Loslassen

Wenn du etwas loslässt, bist du etwas glücklicher. Wenn du viel loslässt, bist du viel glücklicher. Wenn du ganz loslässt, bist du frei.
— Ajahn Chah

15.09.2024

Ironischerweise kann man sagen, dass uns das Thema Loslassen unser ganzes Leben nicht loslässt. Es begegnet uns immer wieder in unterschiedlichen Facetten. Sei es das Loslassen von Gegenständen. Das Loslassen von Vorstellungen und Gedanken. Das Loslassen eines Jobs. Oder auch das Loslassen von Menschen. Loslassen wirkt kurzfristig oft belastend, wenn es eine aktive Entscheidung war langfristig jedoch auch oft entlastend. Einige Menschen können leichter loslassen, anderen fällt es schwerer. Es gibt viele Ratgeber zu diesem Thema. Ich kann es nicht besonders gut.

Für eine lange Reise muss man, zumindest vorübergehend, vieles loslassen. Bei mir bedeutet es auch ein Beschränken auf ein Minimum an Gegenständen. Ich lasse meinen Job und meine Komfortzone hinter mir – und viele Menschen. In der letzten Woche vor meiner Abreise fühlte ich mich wie auf einer Abschiedstournee. Überall begegnete ich Menschen, die mir ans Herz gewachsen sind und denen ich für eine lange Zeit "adieu" sagen musste. Ich war auf dieser Abschiedstournee oft sehr emotional. Dabei kommen auch unangenehme Gedanken auf: Werden mich meine zwei Neffen und meine Nichte, die jetzt zwischen 1 und 5 Jahre alt sind, noch erkennen, wenn ich zurückkomme? Werde ich meine 94-jährige Grossmutter wiedersehen? Wie wird sich die Distanz auf meine Beziehung zu Sofia auswirken, immerhin bin ich die ersten vier Monate ohne sie unterwegs?

Und dann kommt der unangenehme Moment des Tschüss-Sagens. Eigentlich weiss niemand so recht, was sagen und doch sagt man irgendwas. Und dann folgt meist eine Umarmung. Und dann... ja, dann geht man einfach. Ein seltsames Gefühl.

Die erste Nacht meiner Reise habe ich in meinem Elternhaus verbracht. Es war ein wunderbarer Abend, voller guter Gespräche und köstlichem Essen. Der Abschied am nächsten Tag war tränenreich. Ich versuchte, es nicht zu nah an mich heranzulassen und Stärke auszustrahlen. Alles andere hätte es nur noch schwieriger gemacht.

Dieses melancholische Gefühl begleitete mich auf dem Fahrrad. Doch mit jedem Kilometer, den ich in den ersten Tagen zurücklegte, wurde die Last des Loslassens ein wenig leichter, und die Freude auf Bevorstehendes wurde grösser. Allmählich begann ich zu realisieren, dass ich in einer völlig neuen Lebensrealität angekommen war. Auch wenn ich die Abreise natürlich antizipieren konnte, wurde ich gefühlt von einem Moment auf den anderen aus meinem vorherigen Leben herausgerissen und fand mich in der neuen Realität wieder. Darauf kann man sich nicht vorbereiten.

Das Abschiednehmen hatte für mich auch eine positive Seite: Es hat mir wieder einmal bewusst gemacht, wie viele wunderbare Menschen mich umgeben. Das ist für mich eine der grossen Absurditäten des Lebens: Oft erkennt man erst, was man Schönes hatte, wenn es (vorübergehend) nicht mehr da ist.

Doch ich werde all diese Menschen im Herzen auf meiner Reise mittragen. Und ich bin überzeugt, dass ich mit einem grossen Rucksack voller toller Erlebnisse zu all diesen wunderbaren Menschen zurückkehren werde.

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