Mafia

Auch der kriminellen Energie würde eine Energiewende gut zu Gesicht stehen.
— Helmut Glassl

22.10.2024

Bereits an der Grenze wird es ein erstes Mal augenfällig, dass Albaner*innen im Strassenverkehr ihre jeweils eigenen Regeln befolgen. Einer fährt mit dem Auto durch eine Absperrung, um die Warteschlange zu umgehen, und hat damit Erfolg: Er wird von der Grenzwache dennoch ganz normal kontrolliert. Geschwindigkeitsbegrenzungen oder rote Ampeln werden hier meist eher als Vorschlag denn als verpflichtende Wegweisung verstanden. Kurz nach der Grenze streckt mir eine Asiatin Nuss- und Keks-Packungen mit koreanischer Aufschrift aus ihrem Autofenster.

Ich setze mich in Shkodra, dem ersten grösseren albanischen Städtchen, neben einem Strassenhändler auf einen Stuhl.

Als ich merke, dass dieser Stuhl eigentlich derjenige seiner Frau ist, möchte ich wieder Platz machen, doch der Händler bedeutet mir, sitzen zu bleiben.

Ich lasse ihn an meinen südkoreanischen Nüssen und Keksen teilhaben. Plötzlich streckt jemand ihm Geld entgegen. Für mich ist nicht zu erkennen, welche Geschäfte hier vonstatten gehen. Er ist sehr interessiert an meinem Fahrrad, begutachtet es eingehend und ruft gar noch seinen Händler-Kollegen herbei. Beide können fast nicht glauben, dass ich aus der Schweiz hierher gefahren bin.

Ich schaue dem bunten Treiben auf der Strassenkreuzung zu. Pferd und Wagen stehen hier neben einem Mercedes. Emsiges Treiben und Handeln von Alt und Jung. Bei Muezzin-Klängen in Mostar (Bosnien) hatte ich zum ersten Mal auf meiner Reise so richtig das Gefühl, in einer anderen Kultur angekommen zu sein. Hier in Albanien ist dieses Gefühl noch stärker.

Irgendwann muss ich weiter, denn ich will heute einen bestimmten Wildzeltplatz erreichen, den ich gestern Abend online ausfindig gemacht hatte und der nahe zur Abfahrtstelle der Fähre von Koman nach Fierzë liegt. Immerhin muss ich am nächsten Tag bereits morgens um 9 Uhr bei der Fähre sein, denn sie fährt nur einmal täglich, und wie ich vernommen habe, ist die Strasse dahin in sehr schlechtem Zustand. Zeitlich wird das heute eng. Und dann verpasse ich auch noch eine Abzweigung, was mir 130 Extra-Höhenmeter einbringt. Ich fluche lauthals, als ich es bemerke. Ich versuche, mich beim Zurückfahren wenigstens über die Abfahrt zu freuen, jedoch mit bescheidenem Erfolg.

Die Sonne geht unter, doch ich habe mein Ziel noch immer nicht erreicht, und andere Zeltmöglichkeiten gibt es hier nicht. Also fahre ich das letzte Stück im Dunkeln weiter, im Slalom um die Strassenlöcher.

Plötzlich kommt mir ein Auto entgegen, hält an und lässt die Scheibe herunter. Fünf Männer sitzen drin, zumindest schätze ich das aufgrund der Dunkelheit und getönten Scheiben. Sofort spüre ich negative Vibes.

Ich erinnere mich daran, gestern gelesen zu haben, dass die albanische Mafia ziemlich aktiv ist. Sind das Mitglieder der albanischen Mafia? Sie fragen mich, ob ich morgen die Fähre nehmen möchte. Als ich das bejahe, sagen sie mir, dass ich unbedingt die Rozafa-Fähre wählen soll und ich heute auch auf dem Gelände ihres Büros übernachten dürfe. Hinsichtlich Schlafplatz lehne ich dankend ab. Betreffend der Fähre verspreche ich nichts. Ich wusste nicht einmal, dass es mehrere Fähren gibt, und nehme mir vor, heute Abend noch zu recherchieren, um morgen eine Entscheidung zu treffen. Sie werden mich dann morgen beim Hafen sehen, meinen sie noch, was eher bedrohlich als freundlich klingt, und fahren weiter.

Irgendwann erreiche ich mein Ziel: eine Wiese gleich unterhalb der Strasse.

Als ich vom Fahrrad steige, erkenne ich im Dunkeln plötzlich eine Gestalt einige Meter entfernt von mir. Ich erstarre.

Ich versuche, kein Geräusch von mir zu geben und einfach zu beobachten. Kennt die Mafia diesen Schlafplatz etwa auch und wartet hier auf mögliche Überfallsopfer? Die Gestalt bewegt sich langsam, mit Blick zu mir, auf mich zu. Als der Abstand nur noch wenige Meter beträgt, nimmt der Umriss mehr Gestalt an. Plötzlich erkenne ich, dass da eine Kuh auf mich zuläuft. Doch dahinter ist noch etwas. Der dazugehörige Bauer vielleicht? Nein, es ist eine zweite Kuh, wie sich Sekunden später herausstellt.

Beim Zeltaufstellen mache ich die Stirnlampe immer wieder aus, wenn ein Auto vorbeifährt, was etwa viermal vorkommt. Bloss nicht auffallen. Eine andere Schlafmöglichkeit habe ich jetzt nicht mehr. Im Zelt beruhige ich mich schliesslich. Meine Fährenrecherche ergibt, dass es tatsächlich drei verschiedene Fährboote gibt, wovon eines gar nicht anzuraten sei. Es sei das älteste und einfachste Gefährt, und es kursieren offenbar einige Schauergeschichten. Natürlich handelt es sich dabei um die Rozafa – wie könnte es anders sein. Der Name passt hierbei ja auch nicht schlecht, denke ich mir.

Um allfällige morgige Diskussionen mit mutmasslichen Mafiosi aus dem Weg zu gehen, kaufe ich online im Zelt ein Ticket für eine andere Fährgesellschaft.

Ich erreiche den Fährstartplatz am Morgen rechtzeitig. Die Typen von gestern sehe ich glücklicherweise nirgends. Die Rozafa steht allerdings da, abseits, ohne jegliche Passagiere, während die anderen beiden Boote beladen werden. Ich sehe sie schlussendlich gar nicht abfahren.

So bald wie möglich besteige ich mit meinem Fahrrad mein Boot.

Ich habe mich für die Dragoba entschieden, das kleinste der drei, welches keine Autos transportiert, sondern neben mir ausschliesslich ein paar Einheimische und ihr Gepäck.

So bin ich also der einzige Tourist auf dem Boot und kann das in vollen Zügen geniessen.

Die Fahrt durch die steilen, imposanten Felswände ist atemberaubend. Der langgezogene Stausee eröffnet immer wieder den Blick auf neue Felsformationen. Es ist der Fluss Drin, der hier auf 34 Kilometern aufgestaut wird. Gut zweieinhalb Stunden ist die Fähre durch die fjordähnliche Landschaft unterwegs. Nur 50 Meter breit ist die Schlucht an ihrer engsten Stelle. Der See ist bis zu 96 Meter tief.

Von Zeit zu Zeit steigen Personen aus oder ein. Irgendwo im Nirgendwo.

Sie wohnen hier in den Bergen und müssen teilweise vom Ausstiegsplatz noch stundenlang laufen, erklärt mir der Bootsführer. Unglaublich. Das muss sehr speziell sein, so abgeschieden zu leben.

Die Dragoba bringt mich und mein Fahrrad schlussendlich sicher ans Ziel.

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Entscheidung

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(Un-)Glück