(Un-)Glück

Das Glück ist vom Unglück nur zwei Buchstaben weit entfernt.
— Ernst Ferstl

21.10.2024

Auf der Fahrt die Passstrasse nach Virpazar am Skadarsko-See hinunter, nähere ich mich nichts ahnend einem Strassenhund, der jedem Auto – und genauso auch mir – hoffnungsvoll einige Meter nachrennt, nur um dann enttäuscht umzudrehen und auf das nächste Gefährt zu warten. Soweit nichts Aussergewöhnliches, wilde Strassenhunde gibt es im ganzen Balkan leider viele. Doch ich erkenne, dass seine ganze linke Lende bis zum Sprunggelenk hinunter aufgerissen ist – ein riesiges Fellstück fehlt. Was für ein Unglück! Lange wird er es ohne Hilfe nicht mehr machen. Doch mir bleibt nichts anderes übrig, als auch einfach weiterzufahren; ich kann ihm in keiner Weise helfen. Anschliessend schiessen mir Tränen in die Augen und ich bin nahe am Erbrechen. Ich brauche einige Minuten, um mich von diesem schockierenden Anblick etwas zu erholen. Ich habe gewissermassen dem Tod ins Auge geblickt.

Die Schönheit der Umgebung auf und rund um den Skadarsko-See hilft mir, das Erlebte vom Vortag zu verdrängen.

Auf der Fahrt nördlich um den See treffe ich andere Fahrradreisende. Einerseits ein holländisches Pärchen, das auf einem Tandem unterwegs ist. „Auch nicht schlecht,“ denke ich mir, „da ist ein Leistungsunterschied jedenfalls kein Problem. Hat man allerdings untereinander ein Problem, dürfte es mühsam werden, die ganze Zeit so nah auf- respektive hintereinander zu sitzen.“ Sie wollen damit bis nach Asien.

Andererseits treffe ich ein 68-jähriges österreichisches Pärchen, das von zu Hause aus bis hierher nach Montenegro gefahren ist und dabei eine ziemlich ähnliche Route unter die Räder genommen hat wie ich – wie wir im Austausch mit herkömmlicher Karte (sie) und App (ich) herausfinden. Sie sind sehr erfahren im Bikepacking. „Wow, so fit und aktiv möchte ich in diesem Alter auch mal sein!“

Sie haben am Mittag eine Blume entdeckt, die dabei aber nicht im richtigen Sonnenlicht war, um sie zu fotografieren. Deshalb machen sie gegen Abend nochmals eine Extrarunde hin zu diesem Pflänzchen.

Kilometer- oder Höhenmetermüdigkeit? Kennen die beiden offenbar nicht.

Wirklich bemerkenswert. Sie zeigen mir die Blume sowie, nach dem Blumen-Fotoshooting mit nicht allzu guter Kamera, auch das Foto. Beides ist in meinen Augen nichts Besonderes.

Aber die Schönheit liegt ja bekanntlich im Auge des Betrachters.

Der Weg der Extrarunde war wohl mitunter auch Ziel. So oder so scheint es ihr kleines persönliches heutiges Glück zu sein.

Sie weisen mich darauf hin, dass sie am Vortag auch schon in jenem Dorf waren, wo ich als nächstes hinunterzufahren geplant habe. Sie haben meinen geplanten Weg ab da aber nicht gesehen. Doch ich könne ja selbst runterfahren und schauen, es seien ja nur zirka 150 Höhenmeter wieder zurück. „Nur“ 150 Höhenmeter? Das scheint für mich einiges mehr zu sein als für die beiden Pensionäre. Nun bin ich in der Zwickmühle. Soll ich runterfahren oder gleich schon auf die einzige Alternative, eine vielbefahrene Hauptstrasse, setzen? Ich fahre ein Stück runter und lasse da erstmal eine Runde die Drohne fliegen. Ein Auto nähert sich. Mir gelingt es, dieses anzuhalten. Ein Einheimischer kann mir kompetent Auskunft geben: Der besagte Weg existiere nur im Sommer, nun sei er unter Wasser. Nun gut, dann geht’s zurück – wenigstens nur etwa 50 Höhenmeter. Glück im Unglück.

Die Hauptstrasse ist sehr ungemütlich. Sie führt nach Podgorica. Viel Verkehr, kaum Platz für einen Fahrradreisenden wie mich. Die Autos rauschen nah an mir vorbei. Es erfordert meine volle Konzentration, um ohne auch nur den kleinsten Schlenker auf der Strassenseitenlinie zu fahren. Ich bin heilfroh und müde, als ich abbiegen kann. Nun so rasch wie möglich wieder aus Podgorica hinaus, um irgendwo das Zelt aufzustellen. Es ist bereits am Eindunkeln.

Mir kommt der Hund vom Vortag wieder in den Sinn. Ob er wohl noch lebt? Ich spüre abermals Traurigkeit. Doch auch Gedanken an die heutige Fahrt, dem unglaublich schönen Skadarsko-See entlang, fluten meinen Kopf. Meine dabei erlebte Freude und das Flowgefühl werden nochmals spürbar.

Glück und Unglück. Ein wildes Durcheinander von positiven und negativen Emotionen in Kopf und Bauch. Gefühlschaos.

Ich bin dankbar, dass auf meiner Reise bisher alles so gut geklappt hat für mich. Ich hatte Glück. Es grenzt an ein Wunder, dass ich kaum Zwischenfälle erleiden musste. Fast zu wenige, um wahr zu sein.

Und genau da passiert es. Auf der Fahrt durch die Ausläufer von Podgorica holt es mich gedanklich schlagartig zurück in die Gegenwart. Ein Auto fährt rückwärts aus einem Parkplatz, sieht mich offenbar erst spät. Ich kann im letzten Moment gerade noch ausweichen, komme dabei allerdings stark ins Schlenkern. Meine rechte Pedale schlittert am Boden und verhilft mir gerade noch, mich mit Müh und Not auf den Rädern zu halten. Zum Glück kann ich dabei meine Mountainbike-Erfahrung in die Waagschale werfen, sonst wäre ich ziemlich unsanft auf dem Boden aufgeprallt. Glück im Unglück.

Ich stoppe, leicht geschockt. Irgendetwas mit meinem Vorderrad stimmt nicht.

Und jetzt sehe ich es: Ich habe einen Platten. Den ersten nach über 2000 Kilometern.

Da kann man sich wohl nicht beklagen. Jetzt noch flicken und einen Zeltplatz finden, halte ich nicht für realistisch. Aus Podgorica raus schaffe ich es heute nicht mehr. Es ist inzwischen schon richtig dunkel.

Ich mache online zwei Übernachtungsmöglichkeiten in der Nähe ausfindig und laufe zur ersten hin. Da werde ich abgewiesen – die zuständigen Personen seien nicht da. „Was sie wohl gemacht hätten, wenn ich auf dem Hinweg bereits online gebucht hätte?“ Nach ganzen 40 Minuten Fussmarsch mit müden Beinen werde ich fündig. Und wie! Manchmal liegen Glück und Unglück wirklich nah beieinander. Ich habe praktisch eine ganze Wohnung für mich und die netteste Gastgeberfamilie, die ich je erlebt habe. Sie kochen extra für mich noch ein Abendessen, obwohl sie selber schon längst gegessen haben, es schon relativ spät ist und ich auch eine eigene Küche im Appartement hätte. Dass ich als ausgehungerter Fahrradfahrer etwa das Doppelte esse wie sonst jemand, können sie nicht wissen. Dass ich mir deshalb anschliessend auch noch Pasta koche, müssen sie ja nicht wissen.

Die unglaubliche Gastfreundschaft geht am nächsten Tag nahtlos weiter: Sie bringen ein Frühstück, fahren mich zu einem Supermarkt, helfen mir beim Fahrradflicken und bringen mich extra noch zu einem Fahrradmechaniker, da mir ein Fahrradventil-Aufsatz fürs Pumpen fehlt. Sie schenken mir Früchte aus dem eigenen Garten für die Weiterreise sowie eine Kappe und bestehen darauf, dass ich nicht mehr bezahlen darf, als der vereinbarte, sehr erschwingliche Preis. Insbesondere der Gastvater behandelt mich wie einen eigenen Sohn. Ich bin wirklich baff über diese Gastfreundschaft.

Die fehlenden Englischkenntnisse der Gasteltern überbrückt abends die Gasttochter und morgens Google Translate. Trotz aller Familienidylle gibt’s auch am Morgen noch einen Schockmoment. Als wir mit dem Rad vom Fahrradmechaniker zurückkommen, ist der eine Radachsenverschluss nicht mehr da, wo ich ihn dummerweise davor unbedacht auf den Boden gelegt habe. Sehr unglücklich. Naja, eine gewisse Nervosität ist mir nicht abzusprechen bei meinem ersten Platten auf der Reise. Nach einigem Suchen findet ihn der Gastvater im Gras. Was für ein Glück!

Nun kann es weitergehen, nach Albanien. Zum Abschluss gibt es eine Umarmung.

Wenn eine Unterkunft in Podgorica, dann auf jeden Fall „Cute lodge in Zeta“! 

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