Martin

Freunde sind Menschen, die dir nicht den Weg zeigen, sondern ihn einfach mit dir gehen.
— Unbekannt

06.10.2024

Man kann Martin als Aussteiger bezeichnen – einen Aussteiger aus unserem kapitalistischen System. Zeit ist für ihn das höchste Gut. Ungern und nur im nötigen Umfang tauscht er sie in Form von Arbeit gegen Geld ein. Er hat einen Pferdelastwagen zum Eigenheim umgebaut, zahlt also keine Miete, sondern nur eine geringe Stellplatzgebühr. Seine Fixkosten sind insgesamt sehr niedrig, und auch sonst hat er nur wenige Ausgaben. Von seiner eigenen Lebensweise ist er absolut überzeugt. Man merkt, dass er sich viele Gedanken darüber gemacht hat und generell ein reflektierter Mensch ist. Das muss man wohl auch sein, sonst gelingt es kaum, so konsequent gegen die Normen der Gesellschaft zu stehen und gegen den Strom zu schwimmen. Mit seinen Ansichten bringt er mich immer wieder zum Nachdenken. Ausserdem ist er sehr rücksichtsvoll und feinfühlig. Internet hat er zuhause keines. Das lenke ihn nur vom Wichtigen ab. Er ist ein absoluter Machertyp.

Am liebsten ist er mit seinem Fahrrad und Zelt tagelang in der Natur unterwegs.

Wir ergänzen uns gut, vielleicht gerade weil wir in gewissen Belangen so unterschiedlich sind. Mit seiner grossen Fahrradreise-Erfahrung ist er mir in den gemeinsamen Tagen ein guter Lehrmeister. Sei es bezüglich Equipment, Packsystem, Zeltplatzsuche, Ernährungsmanagement, Dehnübungen oder sonstiger Tipps und Tricks. Gegen Schluss unserer gemeinsamen Zeit witzeln wir, dass ich alles Gelernte in Abschlussprüfungen vor ihm als Experte ablegen muss. Selbst bei der Fotografie kann er mir als studierter Produktdesigner spannende Impulse geben.

Neben der Leidenschaft fürs Fahrradfahren verbindet uns also auch diejenige für die Fotografie. Das hat den Vorteil, dass er Verständnis hat und sich nicht langweilt, wenn ich Zeit mit dem Fotografieren verbringe, sondern oft selbst auf Motivjagd ist. Allerdings suchen wir uns oft den gleichen Spot aus und kommen uns so ab und an etwas in die Quere. Dies beginnt jeweils schon beim Zeltaufstellen: Er möchte seines so platzieren, dass es optimal für ein Foto beim Sonnenaufgang steht und meines dabei möglichst nicht im Bild ist. Ich komme seinem Wunsch nach Möglichkeit nach.

Auch sonst braucht es gegenseitige Anpassung, obwohl ich uns beide als unkompliziert bezeichnen würde. Er steht für Spontanität, ich für Planung und Zielorientierung. Wir finden eine Zwischenlösung, indem ich jeweils die Route plane, mit Einbezug der Wetter- und Windprognosen, und diese dann spontan angepasst wird, wenn Martin schöne Gravel-Strecken sieht, die er am liebsten fährt, oder der perfekte Zeltplatz bereits vor dem geplanten Ziel auftaucht.

Martin möchte möglichst jede Nacht zelten oder, nur wenn nicht anders möglich, im billigsten Hostel unterkommen. Ich zelte auch gerne, bin nach ein paar Tagen aber jeweils froh um die Annehmlichkeiten einer (einfachen) Unterkunft. Deshalb, und auch weil ich in Mostar den Besuch einer Massage vorschlage, verunglimpft er mich spasseshalber als "Bikepacking-Glamper", wobei Glamping für luxuriöses Camping steht.

Unsere Übernachtungskompromisslösung: Wir zelten meist, gönnen uns in Split auch einmal ein Apartment mit eigenem Badezimmer und Küche und verbringen die Nächte in Zadar und Mostar in Hostels, wenn auch nicht die allerbilligsten, da ich zumindest auf eine gute Bewertung Wert lege. Wobei eine gute Bewertung noch nicht alles sagt: In Zadar, dummerweise gerade Freitagabend, werden wir in einem superkleinen Vierbettzimmer von Bassklängen vom Club nebenan in den Schlaf begleitet. Gut, dass wir müde genug waren. Und in Mostar treffen wir auf eine verbitterte Besitzerin, die immer wieder auf Bosnisch auf uns einredet, wenn ihr irgendetwas nicht passt – und das kann schon der Fall sein, wenn eins unserer Fahrräder die Wand berührt, selbst wenn es nur eine Tasche am Fahrrad ist. Stets ist sie mit böser Miene unterwegs. Sie spricht nicht Englisch und reicht uns jeweils ihre Tochter am Telefon zur Übersetzung. Untereinander betiteln wir sie als "Hausdrachen". Sie äfft Martin sogar einmal nach, und die beiden kriegen sich fast in die Haare.

Naja, zumindest erlebt man immer etwas Berichtenswertes in solchen Hostels. Die Tochter des Hausdrachens in Mostar hat uns einen wertvollen Tipp im Umgang mit wilden, angriffslustigen Hunden gegeben: Einen hohen Ton von YouTube herunterzuladen, auf YouTube "Anti-Dog Sound" genannt.

Zu zweit zu sein, erleichtert einige Dinge. So ist ein Einkauf viel entspannter, ich muss nicht nervös sein, da mein Fahrrad mitsamt Gepäck draussen unter Beobachtung steht. Man kann sich gegenseitig mit Lebensmitteln und Utensilien aushelfen.

Man kann sich auf Gefahren auf und neben der Strasse aufmerksam machen.

Man kann sich gegenseitig motivieren und helfen, bei was auch immer.

Wir erleben eine tolle Zeit zusammen und entdecken vieles. "Wir sind vom Glück beseelt," sage ich in Glücksmomenten immer mal wieder zu Martin. "Sag sowas nicht, das bringt Unglück. Hochmut kommt vor dem Fall," meint er dann jeweils. In diesem Punkt lasse ich mich von meinem "Reise-Lehrer" nicht belehren. Mit der Zeit wird dieser Spruch zum Running Gag - oftmals sage ich es auch, um ihn damit aufzuziehen. Unglück hat es jedenfalls nicht gebracht.

Zurück
Zurück

Grün

Weiter
Weiter

Tanz