Staunen

Der Anfang aller Weisheit ist das Staunen.
— Sokrates

21.09.2024

Ich freue mich sehr auf die spektakuläre Abfahrt vom Stilfser Joch.

Mir persönlich ist keine spektakulärere Strasse bekannt. Vielleicht wird sich das auf dieser Reise ja noch ändern, wer weiss. Hat man die Strasse jedenfalls einmal gesehen, brennt sie sich einem ins Gehirn ein. Die Serpentinen schlängeln sich von oben anfangs dicht gedrängt aneinander, bis sich die Strasse in die Länge zieht in Richtung des gegenüberliegenden Bergpanoramas. Ich komme aus dem Staunen nicht heraus.

Jede Haarnadelkurve ist nummeriert, sodass ich nicht zählen muss, um am Schluss zu wissen, dass es insgesamt 48 sind.

Und dabei sind wirklich nur die Kurven gezählt, die eine 180-Grad-Wende bedeuten. Es ist gar nicht so einfach, diese spektakuläre Strasse würdig zu fotografieren und meine Eindrücke bildlich zu transportieren. Das Wetter ist wechselhaft – ein Spiel von Schatten und Sonnenlicht. Mit der Drohne in der Luft brettere ich runter. Ich muss aufpassen, dass sie nicht an ihren Startort zurückfliegt, denn das macht sie, wenn der Akku zur Neige geht. Das würde für mich bedeuten, dass ich viele Höhenmeter zurückfahren müsste. Doch es gelingt mir.

Unten angekommen, fällt mir ein Haus auf, umgeben von Knochen und Steinen. Ich stoppe, um ein paar Fotos und Videos zu machen. "Das ist ein Freilichtmuseum und kostet einen Euro fürs Fotografieren", höre ich eine Stimme hinter mir sagen. Die Stimme gehört dem Besitzer und Künstler dieses Ortes. Ich stelle fest, dass ich noch gar keine Euros habe. Doch ich darf das "Eintrittsgeld" mit einem Schweizer Franken bezahlen und komme mit ihm ins Gespräch. Ein Original. Die Knochen sammelt er im Wald von verwesten Tieren. Steine, Schwemmholz und was die Natur sonst noch hergibt, hat er alles selbst gesammelt und teilweise bemalt. Lorenz Kuntner, oder "Der mit dem Windhauch spricht", wie er auch genannt wird, hat zu allem einen Spruch oder eine Weisheit auf Lager. Er hat ein Buch mit eigenen Gedichten veröffentlicht. Die Natur ist seine Lehrerin, Kraftquelle und Inspiration. Wahrscheinlich spricht er wirklich auch mit dem Wind. Was er wann macht, sagt ihm sein Gefühl – es leitet ihn immer und überall. Auf das eigene Gefühl hören und ihm folgen, etwas, das viele Menschen in der schnelllebigen heutigen Welt, abgelenkt durch die digitale Welt in jeder freien Minute, völlig verlernt haben, denke ich. Und etwas, das ich für meine Reise als elementar sehe.

Offenbar waren auch schon verschiedene TV-Teams bei ihm. Das Besondere ist natürlich immer spannend fürs Fernsehen. Und unterhaltsam ist er mit seinen Sprüchen und Denkanstössen im Minutentakt allemal. Einmal habe er im TV erwähnt, dass der Fels hinter seinem Haus, ebenfalls von ihm bemalt, eine Kraftquelle für ihn sei. Am Tag nach der Ausstrahlung sah er eine junge Frau, die sich mit ausgebreiteten Armen an ebendiese Wand drückte. Auf seine Nachfrage, was um Himmels Willen sie da mache, meinte sie, dass sie Kraft tanke. Wir lachen. Humor hat er auch, der gute Mann.

"Wenn du dich selbst finden möchtest, musst du allein sein", gibt er mir als Denkanstoss mit.

Ob ich mich mit meiner Reise (unbewusst) selbst finden möchte? Ich weiss es ehrlich gesagt nicht.

Ich folge einfach meinem Herzen. Und dieses will nun einmal mit dem Fahrrad nach Afrika.

Ob ich mich dabei selbst finden werde?

Auch sein Auto ist vollgeschrieben mit Sprüchen. Einer fällt mir auf und gefällt mir besonders: "Der Anfang aller Weisheit ist das Staunen." Gestaunt habe ich heute schon viel – sowohl über die Bergwelt und das Stilfser Joch als auch nun über diesen Mann. Jetzt muss ich aber weiter, um es noch bis Merano zu schaffen.

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